Stottern stoppen

„Seit ich arbeite, stört mich mein Stottern mehr als je zuvor. Und es wird schlimmer. Was kann ich tun?“, fragt Christian D. (24)

von Gudenberg

Allgemeinmediziner Dr. Alexander Wolff von Gudenberg, Bad Emstal
Wolff von Gudenberg hat zwölf Therapien gegen sein Stottern hinter sich. Seit seiner Doktorarbeit, Mitte der 80er-Jahre, beschäftigt sich der Facharzt für Allgemeinmedizin mit Zusatzbezeichnung „Sprach- und Stimmstörungen“ mit Stottertherapien weltweit. Er ist an mehreren Forschungsprojekten beteiligt. 1999 gründete er das Institut der Kasseler Stottertherapie, dessen Methode auf einem Projekt der Universität Kassel beruht.

Es antwortet Dr. Alexander Wolff von Gudenberg, Stottertherapeut und Allgemeinarzt aus Bad Emstal:

Was Sie erleben, ist durchaus typisch: Das Stottern wird schlimmer, je mehr man dagegen ankämpft. Kein Wunder, denn diese Sprechstörung gilt nach wie vor als Makel. Betroffene fühlen sich wie auf dem Präsentierteller. Fast alle haben demütigende Erfahrungen gemacht – etwa, wenn ein Gesprächspartner betont langsam und laut mit einem redet, so als habe er einen Minderbegabten vor sich.
Mit geeignetem Training und beharrlichem Üben lässt sich der Teufelskreis aus Anspannung und stockenden Wörtern aber fast immer durchbrechen. Die Chancen stehen gut, dass Sie lernen, souveräner, also mit kontrolliertem Sprachfluss, aufzutreten – auch wenn Sie das Stottern als Erwachsener wohl nicht mehr ganz werden eindämmen können.

Zwei etablierte Therapieansätze

Zwei Therapieansätze gelten heute als besonders etabliert. Sie stammen aus den USA und werden daher mit englischen Ausdrücken bezeichnet. Beim „Fluency Shaping“ lernen Stotterer das Sprechen neu. Zu Beginn reden sie extrem langsam. Jede Silbe wird leise und weich angesetzt und auf zwei Sekunden gedehnt, ehe sie in den nächsten Laut übergeht. Das hört sich an wie ein seltsamer Gesang, verhindert aber das Stottern. Allmählich steigt das Tempo bis zum normal klingenden Reden. Durch stetes Üben automatisiert sich die Sprechtechnik zunehmend. Eine gewisse bewusste Kontrolle bleibt jedoch notwendig.

Die „Non-Avoidance-“ oder „Nicht-Vermeidungs“-Strategie zielt darauf ab, von einem gestressten zu einem lockeren Umgang mit der Silben-Klemme zu finden. Patienten lernen punktuell Sprechtechniken für besonders schwierige Wörter. Vor allem aber werden sie ermutigt, lieber zu stottern, als zu schweigen. Häufiger Nebeneffekt: Lässt das krampfhafte Vermeiden nach, wird die Sprache flüssiger. Einige Therapien kombinieren inzwischen beide Strategien.

Die Angst vor dem Reden mindern

Keine innere Hemmung, sondern Erbanlage

Zu ihnen zählt das „Kasseler Stottertraining“. Hier üben die Teilnehmer in der ersten Kurswoche intensiv das „Fluency Shaping“. In der zweiten Woche geht es darum, die Angst zu verlernen. Sie gehen zum Beispiel einkaufen, fragen Passanten nach dem Weg, rufen beim Schwimmbad an oder – für viele die schlimmste Vorstellung – halten Vorträge vor Publikum.

Um das Erreichte zu bewahren, müssen Kursabsolventen zu Hause weiterüben – am besten täglich. Dabei hilft eine Software, die den Wortklang in eine Kurve auf dem Computerbildschirm umsetzt. Daraus lässt sich ersehen, ob die Silben weich genug gesprochen waren. Schließlich gehören drei Auffrischungswochenenden zum Paket. Alle Krankenkassen übernehmen die Kosten, wenn der Hausarzt eine formlose Empfehlung ausstellt.

Die „Kasseler Stottertherapie“ ist somit ein Beispiel für Angebote, die den Qualitätskriterien der Bundesvereinigung der Stotterer-Selbsthilfe (BVSS) in Köln entsprechen. Demnach sollte eine seriöse Behandlung ausreichend lange dauern, Übungen außerhalb der Praxis anbieten und dafür sorgen, dass sich das Erlernte im Alltag bewährt. Für ratsam hält der BVSS zudem ein ausgedehntes Nachsorgeprogramm sowie eine Strategie für Rückfälle.

Vorurteile und Wahrheiten über die Laut-Klemme:

Jeder hundertste Erwachsene stottert

Warum, wurde noch nicht in allen Details geklärt. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist die Veranlagung zum Stottern vererbt. Doch nicht jeder derart Vorbelastete stottert automatisch. Den Zufälligkeiten des Lebens schreiben Forscher einen Anteil von etwa 30 Prozent zu. Als falsch gilt mittlerweile die lange verbreitete Meinung, Stottern sei Ausdruck eines unbewussten psychischen Konflikts – zum Beispiel infolge der Scheidung der Eltern. Zunehmend zeichnet sich ab, dass im Gehirn von Stotterern beim Sprechen andere Bereiche aktiv sind als bei Normalsprechern. So könnte die Feinabstimmung bei der Lautbildung gestört sein.

Sprachfehler bei Kindern nicht ignorieren

Fünf Prozent der Kinder stottern phasenweise. Bis zur Pubertät sprechen vier von fünf Betroffenen aber wieder flüssig – vor allem Mädchen. Lange Zeit galt es als Tipp für Eltern, den Sprachfehler zu ignorieren. Nun glauben Experten mehrheitlich, dass es Kindern nicht schadet, offen mit dem Problem umzugehen. Auch ein früher Therapiebeginn gilt zunehmend als sinnvoll. Eltern sollten nie die Wörter oder Sätze für ihre Kinder beenden. Auch Ratschläge wie „sprich langsamer“ oder „konzentrier dich“ sind fehl am Platz. Günstig scheinen Programme wie „Lidcombe“ oder „FranKa“ zu wirken. Sie beziehen die Eltern ein und bringen ihnen bei, die Kinder konstruktiv zu verbessern und sie zu loben, wenn sie richtig sprechen.

Fast alle können singen, ohne zu stottern

Falsch ist das Vorurteil, Stotterer seien stark gehemmt oder gar weniger intelligent. Der befremdliche Eindruck, den Stottern gelegentlich erzeugt, kommt von Muskelanspannungen bei dem verzweifelten Bemühen, bestimmte Laute hervorzubringen. Einigen ist ihre Sprachstörung derart peinlich, dass sie oft aufgeben und mitten im Satz zu sprechen aufhören. Die Schwere des Stotterns kann je nach Wörtern, Gesprächspartner, Gefühlslage und körperlicher Verfassung stark schwanken. Die meisten Stotterer können problemlos singen, weil dabei andere Hirnzentren aktiviert werden als beim Sprechen.

Quelle: Wort&Bild Verlag; HausArzt-PatientenMagazin
Foto:W&B/Fritz Stockmeier